
Biologen aus Kaiserslautern forschen in Südamerika
Das Team um Dr. Rainer Wirth befasst sich in seiner Forschung mit Blattschneideameisen. Dazu reist es auch oft nach Südamerika, um die Tiere in ihrer natürlichen Umgebung zu studieren.
Menschen betreiben seit etwa 12.000 Jahren Landwirtschaft – neuere Untersuchungen belegen gar, dass man im heutigen Israel bereits vor 23.000 Jahren Getreide kultivierte. Als unsere Vorfahren sesshaft wurden, begannen sie mit dem Anbau von Nahrungsmitteln. Allerdings sind wir Menschen nicht die einzigen Lebewesen, die sich ihr Essen auf diese Weise selbst produzieren. Blattschneiderameisen machen das auch – und zwar schon wesentlich länger: „Sie haben die Landwirtschaft sozusagen erfunden. Und das vor 60 Millionen Jahren“, erklärt Dr. Rainer Wirth, der seit 25 Jahren eine Arbeitsgruppe am Fachbereich Biologie der Technischen Universität Kaiserslautern leitet. Wirth beschäftigt sich mit Interaktionen in der Natur – mit Wechselwirkungen zwischen Pflanzen und Tieren. Er geht dabei unter anderem der Frage nach, wie Organismen auf von Menschen gemachte Veränderungen reagieren – und „wie dies ursächlich die aktuelle Biodiversitätskrise verursacht“. Denn, so sagt er: „Wir erleben derzeit ein globales Artensterben, wie es das so noch nie gegeben hat.“
Landwirte im Tierreich
Im Fokus von Rainer Wirths Forschung stehen eben jene Blattschneiderameisen. Denn ob und wie erfolgreich sich diese in ihrer Heimat Süd- und Mittelamerika ausbreiten – oder anders gesagt: Ob und wie erfolgreich diese Landwirtschaft betreiben, sagt viel über den Zustand der dortigen Natur aus.
Doch um zu verstehen, warum der Art eine Schlüsselrolle beim Verständnis der Umweltveränderungen zugesprochen wird, muss man sich zunächst mit der Lebensweise der kleinen Tierchen beschäftigen: „Natürlich bauen Blattschneiderameisen kein Getreide oder Kartoffeln an“, ordnet es der Biologe Rainer Wirth ein, „vielmehr schneiden sie aus Blättern von Bäumen und Sträuchern kleine Stücke heraus. Diese bringen sie dann viele Meter weit in ihre riesigen Erdnester.“ Dort – in der warmen und feuchten Umgebung – wachsen auf den Blattstücken dann bestimmte Pilze. Pilze, die zur Gruppe der Champignonartigen gehören. Diese wiederum sind die Nahrung der Blattschneiderameisen, werden von ihnen gepflegt, kultiviert und irgendwann geerntet.
© TUK/KozielWir glauben oft, dass wir Menschen die Krönung der Schöpfung sind. Doch andere Lebewesen sind mindestens genauso erfolgreich.
Dr. Rainer Wirth
Blattschneiderameisen haben ein ausgeklügeltes System entwickelt
„Die Nester der Blattschneiderameisen sind riesig. Sie haben Kammern, die bis zu acht Meter tief in den Boden gehen“, erklärt Rainer Wirth weiter, der sich in den vergangenen Jahren intensiv mit der Lebensweise der Insekten beschäftigt hat. Die Kammern der Nester haben unterschiedliche Funktionen: „In einigen befinden sich Pilzgärten, andere werden von den Ameisen als eine Art Komposthaufen genutzt.“ Zwischen den Kammern gebe es lange Verbindungskanäle, berichtet Wirth: Entlang dieser Wege transportieren die Tierchen Blattstücke, Brut und Abfall. Einige Teile der Tunnels dienen auch zur Be- und Entlüftung - und zur Drainage der Kammern, in denen ein ganz bestimmtes Mikroklima vorherrschen muss, damit die Pilzgärten gut gedeihen.
„Bis zu 10 Millionen Ameisen leben in so einem Bau.“ Ein einziges Nest könne eine Größe von mehr als 500 m2 annehmen, ergänzt Rainer Wirth, der solche Bauten in Südamerika bereits eigenhändig ausgegraben hat.
„Jede Ameise in der Kolonie hat ihre Aufgabe, die Arbeitsteilung ist bei Blattschneiderameisen besonders ausgeprägt“. Die anfallenden Arbeiten - wie etwa geeignete Blätter auskundschaften, Blätter schneiden oder Nestbau - werden von bestimmten Gruppen von Arbeiterinnen erledigt, den sogenannten Kasten. „Dabei unterscheiden sich die einzelnen Individuen einer Kolonie erheblich. Abhängig davon, welcher Kaste sie angehören“, erklärt Rainer Wirth: „Die Größenunterschiede variieren um das bis zu 200-fache“. Die kleinsten Arbeiterinnen sind für die Pflege der Pilze zuständig, die großen „Soldatinnen“ sind verantwortlich für die Abwehr von Feinden und für die Instandhaltung der bis zu 100 m langen Transportwege auf dem Waldboden, über die die Blätter in das Nest getragen werden.
Blattschneiderameisen haben ähnliche Probleme wie menschliche Landwirte: „Beim Anbau des Pilzes handelt es sich um eine Monokultur“, erklärt Rainer Wirth. Und Monokulturen bergen immer die Gefahr, Schädlinge anzulocken. Doch auch dagegen haben die schlauen Insekten längst Mittel und Wege gefunden: Dazu gehören Ameisen-eigene Drüsensekrete, die sich wie Pestizide nutzen lassen - oder der Einsatz von Antibiotika. „Diese Antibiotika werden von Bakterien produziert, die interessanterweise auf dem Körper einiger Ameisen zu finden sind – und die in Symbiose mit ihnen leben“, erklärt Rainer Wirth.
Die kleinen - zunächst vielleicht eher unscheinbar wirkenden – Blattschneiderameisen haben insgesamt also ein sehr ausgeklügeltes System entwickelt, das ihnen das Überleben sichert, fasst Rainer Wirth zusammen. Der Wissenschaftler wirkt fasziniert und ehrfürchtig zugleich, wenn er von seinen Forschungsobjekten erzählt: „Wir glauben oft, dass wir Menschen die Krönung der Schöpfung sind. Doch andere Lebewesen sind mindestens genauso erfolgreich.“
Biologen der TUK forschen im heimischen Labor – und in Südamerika
Untersuchungen führen Wirth und sein Team unter anderem an der Uni in Kaiserslautern durch. In einem extra dafür eingerichteten Ameisenlabor: „Hier halten wir insgesamt sechs Blattschneiderameisen-Kolonien einer kolumbianischen Art.“ Daneben sind die Forschenden häufig auch in Südamerika: „In Brasilien haben wir eine Kooperation mit Forschergruppen der Universität in Recife.“ Mitarbeitende und Studierende von dort seien wiederum regelmäßig in Kaiserslautern zu Gast, aktuell sei ein brasilianischer Kollege als Humboldt-Preisträger an der TUK.
Blattschneiderameisen formen Ökosysteme um
Das deutsch-brasilianische Kooperationsprojekt hat die Lebensbedingungen von Blattschneiderameisen in den vergangenen Jahren intensiv erforscht. Mehr als 40 wissenschaftliche Publikationen sind entstanden. Die Forschenden haben die Wirkung der Tiere studiert, was sie mit der Natur machen, wie sie Ökosysteme umformen. Der Tatsache, dass sie ganze Ökosysteme verändern, verdanken sie übrigens die Bezeichnung „Ökosystemingenieure“: Die deutsch-brasilianische Kooperation hat diese Rolle der Ameisen als erste beschrieben.
Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Wirth haben unter anderem herausgefunden, dass an einem Tag schon mal bis zu 400.000 Blattstücke in ein Nest getragen werden. Und dass sie Tiere im Jahr bis zu 500 kg Trockenmasse ernten. „Blattschneiderameisen gehören damit zu den Top fünf der dominanten Pflanzenfresser im Tierreich amerikanischer Regenwälder“, sagt Rainer Wirth. Nur eben, dass sie die Blätter nicht selbst fressen.
Viel haben die Forschenden über Blattschneiderameisen bereits herausgefunden. Auch, warum sie sich wesentlich erfolgreicher ausbreiten können als andere Organismen: „Normalerweise geben Pflanzen zur Abwehr von Pflanzenfressern bestimmte Substanzen ab, fast wie ein Pfefferspray“, erklärt Rainer Wirth. Gegen Raupen und andere aufdringliche Tierchen können sie sich so wehren. Doch den Blattschneiderameisen scheint diese Abwehr weniger anhaben zu können. Warum das so ist – hat Rainer Wirth gemeinsam mit dem Max-Planck-Institut für chemische Ökologie in Jena untersucht. Wirth: „Wir haben Indizien, dass die Art und Weise, wie Blattschneiderameisen ein Blatt schneiden, hierfür ausschlaggebend ist.“ Ihre Mandibeln schneiden wie eine Schere, wodurch das Blattgewebe relativ wenig verwundet wird.“ Eine Technik, mit der Blattschneiderameisen ganz offenbar die pflanzliche Gegenwehr aushebeln. Und einer der Gründe, weshalb sie in Süd- und Mittelamerika als Schädling gefürchtet sind.
Menschliche Eingriffe in die Natur sind dafür verantwortlich, dass sich Blattschneiderameisen immer weiter ausbreiten können
Doch es gebe weitere Gründe, warum sich Blattschneiderameisen immer weiter ausbreiten, warum ihre Nester immer mehr werden, ergänzt der Biologe Rainer Wirth: „Die Dezimierung des Waldes in seinem natürlichen Zustand ist eine entscheidende Ursache.“ Gemeint ist das Abholzen des tropischen Regenwaldes „damit dort beispielsweise Zuckerrohr angebaut werden kann.“
Tatsächlich ist Brasilien der größte Zuckerproduzent der Erde; die Anbaufläche hat sich von 2002 bis 2019 von 51.000 auf 100.000 Quadratkilometer mehr als verdoppelt. Insbesondere der ‚Atlantische Regenwald‘ an der brasilianischen Atlantikküste fiel den Plantagen zum Opfer. Inzwischen sind nur noch etwa 10 Prozent des Waldes übrig.
Wissenschaftler sprechen von Waldfragmentierung: “Ungestörte, zusammenhängende Wälder gibt es praktisch nicht mehr, meistens handelt es sich um kleine Waldinseln in einem Meer von Zuckerrohr“, berichtet Rainer Wirth. In Folge der menschgemachten Eingriffe erfährt das Waldökosystem tiefgreifende Veränderungen, viele Tiere und Pflanzen sterben lokal aus, die Waldvegetation verändert sich. Und wie die Forschenden herausfanden, profitieren Blattschneiderameisen von diesen veränderten Bedingungen: „In den neuen Waldlandschaften sind die Pflanzen wohlschmeckender und ungiftiger für den Pilz, den sie kultivieren.“ Andererseits gehe zugleich der Bestand der natürlichen Feinde der Blattschneiderameisen zurück. Dazu gehören beispielsweise Ameisenbären oder Gürteltiere. Rainer Wirth: „Blattschneiderameisen leben in den betroffenen Regionen nun ungefährlicher. Und breiten sich auch deshalb verstärkt aus.“ Diese ungehinderte Ausbreitung hat Folgen: So haben Forschende um Wirth herausgefunden, dass bis zu 35 Prozent der gesamten Blattmasse eines Waldgebiets abgetragen wird. Erstaunliche Zahlen - in einem ökologisch intakten Gebiet seien es lediglich 10 Prozent der Blattmasse, die gefressen werde, sagt Wirth - „das dann allerdings von allen Pflanzenfressern zusammen.“
Diese Fraßschäden setzen den Waldbäumen gehörig zu. Das Forscherteam konnte zeigen, dass sich die Baumartenzusammensetzung solcher Wälder stark verändert und die Biodiversität abnimmt. Sogar das Waldklima verschlechtert sich deutlich aufgrund der vielen Ameisennester; der einstmals feuchte, dunkle Wald wird lichter und trockener.
Große Anzahl an Blattschneiderameisen-Nestern erschwert anderen Organismen das Überleben
Lange hat das deutsch-brasilianische Team die Ursachen und die Wirkung der Blattschneiderameisenvermehrung im tropischen Regenwald erforscht. Seit 2014 haben sie ein neues Untersuchungsgebiet – die Caatinga, ein Trockenwald-Gebiet im Nordosten Brasiliens. „Dies ist ein Ökosystem, das in etwa so groß ist wie England und Frankreich zusammen.“ Gemeinsam mit Kollegen der Frankfurt University of Applied Sciences und der Universität Würzburg wollen sie hier mit Drohnen die Blattschneiderameisen-Nester kartieren. Ein Ziel ist es, mithilfe des maschinellen Lernens Nester automatisch zu detektieren. Um die Bodenveränderungen besser zu verstehen, fanden im Dezember 2021 aufwendige Grabungskampagnen satt, die der Erstellung digitaler 3D-Modelle der unterirdischen Neststrukturen dienen.
„Ein Drittel des Gebietes ist bereits desertifiziert, es hat sich zur Wüste entwickelt“, erklärt Rainer Wirth. Aus verschiedenen Gründen – neben dem Klimawandel spiele vor allem die Übernutzung der natürlichen Ressourcen eine Rolle. „Blattschneiderameisen kommen mit diesen sich verändernden Bedingungen gut zurecht. Sie gehören zu den wenigen Gewinnern der Degradation und breiten sich auch hier immer weiter aus.“ Und das hat Folgen: Baumkeimlinge haben es schwer sich anzusiedeln. Auf den Nestern der Blattschneiderameisen verkrustet der Boden. Dieser nimmt dadurch weniger Wasser auf. Er wird trockener. „Auch die Nährstoff-Zusammensetzung verändert sich durch die Grabungstätigkeiten der Ameisen.“ All das hat Auswirkungen auf andere Organismen: Die Lebensbedingungen für feuchteliebende Arten etwa verschlechtert sich.
Nachhaltige Landwirtschaft kann eine Regeneration bewirken
In einem aktuellen Forschungsprojekt untersuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler um Wirth, wie sich diese Entwicklung verhindern – oder gar zurückdrängen ließe. „Eine nachhaltige Landwirtschaft wäre ein Ansatz“, meint Rainer Wirth. Denn die von den Blattschneiderameisen erzeugte Situation sei reversibel. „Bei einer Renaturierung der landwirtschaftlichen Brachen werden auch die Blattschneiderameisen weniger. Weil es dann weniger schmackhafte Nahrungspflanzen gibt – und ja auch ihre natürlichen Feinde wieder zurückkommen.“ Nachhaltige, biodiversitätsfreundliche Landwirtschaft sei ein Ansatz um die Bedingungen wieder so herzustellen, „dass sie für Blattschneiderameisen weniger gut sind.“
Eine Erkenntnis, die möglicherweise auch für andere Regionen von Bedeutung sein könnte. Denn blieben die Insekten auf Erfolgsspur, breiten sie sich möglicherweise in nördlichere Gebiete aus – bis in die USA. „Auszuschließen ist das nicht“, meint Wirth. Gemeinsam mit seinen Kollegen wird er die Entwicklung ganz genau im Auge behalten.

am 22.02.2022 von
Melanie Löw